Auf in die Hauptstadt! So hieß es nicht nur am Palmsonntag bei Jesus. Auf in die Hauptstadt, so hieß es am Epiphaniastag 2021 in Washington. Auf ins Zentrum der Macht! Doch die 800 Leute, die zum Kapitol zogen, folgten nicht friedlich einem jüdischen Messias. Sie trugen Hörner, schwenkten Fahnen, kletterten durch Fenster, wälzten sich durch die Flure, brachen in Büros ein, lümmelten mit den Füßen auf dem Schreibtisch und schickten ihre Selfies in die Welt: Wir sind da. Dieses Haus gehört uns. Wir haben die Macht. Die Bilanz: 5 Tote, 56 verletzte Polizist*innen, eine zutiefst verstörte Gesellschaft und die bange Frage: wann kommen sie wieder.
Wie anders war der Einzug von Jesus in Jerusalem. Er saß auf einem Esel, die Armen begleiteten ihn. Die einen rissen sich die Kleider vom Leib, andere schwenkten Palmenblätter, wieder andere riefen: Hosianna. Hosianna dem Sohn Davids. Das ist ein Gebetsruf aus dem 118. Psalm, aus der Pessach-Liturgie (Ps 118,25). Hoschiah, das heißt eigentlich: Hilf doch. Der Psalm ist ein Höhepunkt der Pessach-Liturgie – und zum Pessach-Fest ist Jesus ja auch nach Jerusalem gezogen. Hoschiah, damit wurde der Retter herbeigerufen. Jesus selbst heißt so. Gott hilft, Gott rettet, dieser hebräische Wortstamm aus Hosianna steckt auch in Jesus.
Die Karwoche hat aber noch eine andere Seite. Die Passionszeit war jahrhundertelang Pogromzeit. In den Predigten der Karwoche wurde zum Haß gegen Jüdinnen und Juden aufgestachelt. Sie würden die Schuld am Tod des Erlösers tragen. Karfreitag war der gefährlichste Tag im ganzen Jahr für Jüd*innen. Die Prozessionen endeten nicht selten in Hetzjagden – bis ins 20. Jahrhundert hinein. 1934 etwa rotten sich am Palmsonntag in der fränkischen Kleinstadt Gunzenhausen die Einwohner*innen zusammen, verprügelten die Jüd*innen des Ortes und jagten sie durch die Straßen. Am Ende schleiften sie 30 Frauen und Männer ins Gefängnis, zwei starben. 1000 bis 1500 Leute beteiligten sich an den Ausschreitungen. 5.600 Menschen lebten damals in Gunzenhausen.
Hosianna dem Sohn Davids. Am Palmsonntag werden in der Kirche diese uralten jüdischen Worte gesungen. Beim Abendmahl kommen sie wieder: „… Hosianna in der Höhe. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn. Hosianna in der Höhe.“Es ist die Hoffnung der jüdischen Menschen, dass Gott sie rettet, so wie sie es in Ägypten, am Schilfmehr erlebt haben. Jahr für Jahr erinnern sie daran beim Pessach-Fest – in den Tagen, an denen wir Ostern feiern, und zugleich an den Tagen, in denen sie vertrieben wurden von den christlichen Mitbewohner*innen. Hosianna, Gott hilf doch. Diesen Ruf und diese Hoffnung, dass Gott befreit, haben wir von ihnen übernommen. Im Lied „Tochter Zion“ werden die Worte aufgenommen. Doch Tochter Zion, das ist nicht die adventlich geschmückte Kirche. Sondern Tochter Zion ist Jerusalem, und jedes Pessach-Fest beginnt am Sederabend mit dem Wunsch „und nächstes Jahr in Jerusalem“.
Wenn ich am Palmsonntag die Geschichte vom Einzug in Jerusalem höre, dann denke ich zugleich an diese vergessene Seite des Palmsonntags. Dass die Karwoche immer wieder eine Zeit voller Bedrohung und Haß und Lebensgefahr für die jüdischen Menschen war, aus deren Glaubensgut sich die christliche Kirche munter bedient hat, während sie gleichzeitig ihren Glauben verächtlich gemacht hat.
Auf in die Hauptstadt. Bei Jesus rollt kein Panzer herein. Keine Fahnen mit Sternenbanner werden geschwenkt oder Gewehre in Kameras gehalten. Die Leute winken mit Palmenwedeln. Ein einzelner Mann zottelt langsam auf einem Esel heran, dem Lasttier der Armen. Der schießt niemanden tot. Sein Umzug ist ein zutiefst friedlicher.
Wenn wir in diesen Tagen unsere Häuser mit Weidenkätzchen schmücken und Ostersträuße aufstellen, sollen sie von Hoffnung und Gemeinschaft erzählen. Wir mögen einander achten, die Leidensgeschichten um uns herum wahrnehmen und zur Versöhnung beitragen.